Nach wie vor haben rund 95 % der Erstklässler die grundlegenden Impfungen erhalten. Dennoch äußern immer häufiger Eltern Bedenken, ob denn jede Impfung, die vom Arzt vorgeschlagen wird, auch wirklich erfolgen soll. Angeführt werden vor allem die verschiedensten Nebenwirkungen der Impfung. Auch werden die Krankheiten als nicht so schwerwiegend eingestuft, um das eigene Kind hiergegen zu schützen. Erst recht kann es zu Problemen kommen, wenn sich die Eltern über die Notwendigkeit einer Schutzimpfung uneinig sind.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte jüngst folgenden Fall (03.05.2017 – XII ZB 157/16) zu entscheiden: Die Eltern haben die gemeinsame elterliche Sorge für ihre im Juni 2012 geborene Tochter. Der Vater befürwortet die Durchführung der altersentsprechenden Schutzimpfungen, die durch die Ständige Impfkommission am Robert Koch-Institut (STIKO) empfohlen werden. Die Mutter ist der Meinung, das Risiko von Impfschäden wiege schwerer als das allgemeine Infektionsrisiko. Nur wenn ärztlicherseits Impfschäden mit Sicherheit ausgeschlossen werden könnten, könne sie eine anlassunabhängige Impfung ihrer Tochter befürworten. Das Amtsgericht hatte dem Vater das Entscheidungsrecht über die Durchführung von Impfungen übertragen. In der zweiten Instanz bestätigte das zuständige Oberlandesgericht grundsätzlich diese Entscheidung, beschränkte die Entscheidungsbefugnis des Vaters jedoch auf die grundlegenden Schutzimpfungen gegen Tetanus, Diphtherie, Pertussis, Pneumokokken, Rotaviren, Meningokokken C, Masern, Mumps und Röteln.
Haben die Eltern eines Kindes bei gemeinsamer elterlicher Sorge eine Meinungsverschiedenheit in einer Angelegenheit von erheblicher Bedeutung, so kann das Familiengericht auf Antrag eines Elternteils die Entscheidung einem Elternteil übertragen (vgl. § 1628 BGB). Die Entscheidungskompetenz ist dem Elternteil zu übertragen, dessen Lösungsvorschlag dem Wohl des Kindes besser gerecht wird.
Das Gericht stellt fest, dass die Durchführung von Schutzimpfungen keine alltägliche Angelegenheit ist, über die der Elternteil, bei dem sich das Kind gewöhnlich aufhält alleine entscheiden kann (vgl. § 1687 Abs. 1 BGB). Dies ergibt sich nach Meinung der Richter in Karlsruhe allein schon daraus, dass es sich bei Impfungen um keine Entscheidungen handelt, die als Alltagsangelegenheiten häufig vorkommen. Ob ein Kind gegen eine bestimmte gefährliche Krankheit geimpft werden soll oder nicht, ist normalerweise nur einmal zu treffen. Sowohl der mit der Impfung erzielbare Schutz vor Infektionen als auch umgekehrt das Risiko einer Impfschädigung spricht für eine erhebliche Bedeutung. Beide Eltern müssen also einer Impfung grundsätzlich zustimmen.
Wenn sich diese nun aber nicht einig sind, ist einem der Eltern das Entscheidungsrecht zu übertragen. Der BGH hat dem Vater dieses Recht übertragen, da er sich an die Empfehlungen der STIKO halten will. Da bei dem Kind keine besonderen Impfrisiken bekannt waren, konnte das Oberlandesgericht auf die Impfempfehlungen als vorhandene wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgreifen. Die Mutter hatte vorgetragen, dass die Impfratschläge in einer „unheilvollen Lobbyarbeit von Pharmaindustrie und der Ärzteschaft“ zustande kämen. Diesem allgemeinen Vorwurf folgte der BGH aber nicht.
Im Zweifel erhält also der Elternteil Recht, der sein Kind impfen möchte. Der Infektionsschutz hat Vorrang vor dem Impfrisiko. Das mag der eine oder die andere auch anders sehen. Es darf aber nicht wirklich verwundern, dass das staatliche Gericht auf die Empfehlungen der ebenfalls staatlichen Impfkommission abstellt.
Dr. Johannes Mierau
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Familien- und Erbrecht
Rechtsanwälte Dr. Vocke & Partner, Würzburg